R. Bloch u.a. (Hrsg.): Jüdische Lebens- und Denkwelten

Cover
Titel
Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000


Herausgeber
Bloch, René; Jacques, Picard
Reihe
Schriftenreihe des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Annette Brunschwig

Die Texte der 25 Autoren und Autorinnen sind sehr unterschiedlich, sowohl was die Länge als auch und vor allem was die Qualität angeht.

Der erste Teil – mit Mittelalterliche Spuren betitelt – erzählt die Geschichte der Juden vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Hervorgehoben werden kann hier der Text von Oliva Franz-Klauser über die 30 hebräischen Handschriften in der Berner Burgerbibliothek. Urkundlich bezeugt sind die Juden in Bern seit den 1250er-Jahren. Es muss damals eine blühende jüdische Gemeinde mit einem «Judenhaus» und eigenem Friedhof gegeben haben. Schon 1294 kam es in Bern als Folge von Stadtbränden und Kriegsschulden zu einer Ritualmordbeschuldigung. Die Juden mussten die Stadt verlassen, zudem 1 500 Mark Silber Busse zahlen und dazu noch allen Bürgern ihre Pfänder zurückgeben. Ende des 13. Jahrhunderts lebten wieder einige wenige Juden in Bern. Im Zug der Pest 1347 / 48 war Bern eine der ersten Städte des Reiches, die ihre kleine jüdische Gemeinde ausrottete. Nach der Vertreibung dauerte es rund 25 Jahre, bis wieder Juden in Bern leben durften, weil die Stadt Geld benötigte. 1404 vertrieb Bern die Juden ein drittes Mal. Nach einem verheerenden Stadtbrand nahm die Stadt wiederum einige ausgewählte jüdische Familien auf, die dann 1427 endgültig vertrieben wurden. Bis 1800 traten in Bern nur noch vereinzelte jüdische Marktfahrer und Hausierer auf.

Im zweiten Teil Gründerzeit werden die Schwierigkeiten der Juden gezeigt, sich in Bern niederzulassen. Erst nach 1874 wuchs die jüdische Gemeinde Berns beständig bis auf rund 1 000 Personen, dies vor allem durch Zuwanderung jüdischer Flüchtlinge und Studenten aus Russland.

Das folgende Grosskapitel Geisteswelten befasst sich mit dem wichtigen Einfluss der Berner Universität auf das jüdische Bern. Da die Universität keinen Taufzwang hatte, strömten zahlreiche jüdische Gelehrte vor allem aus Deutschland in die Stadt. Viele dieser Professoren waren bekannte Mediziner, denen Studenten aus Deutschland und Osteuropa folgten. Nicht an der Universität, sondern im eidgenössischen Patentamt arbeitete von 1902 bis 1909 Albert Einstein. Zwischen 1881 und dem Ersten Weltkrieg verliessen etwa zwei Millionen Juden aufgrund des zunehmenden wirtschaftlichen Drucks und der Pogrome Russland. Einige kamen auch in die Schweiz, wo es in fast allen grösseren Städten ostjüdische Gemeinschaften gab. Zu den politisch Aktiven gehörten die sogenannten «Bundisten», also Angehörige des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, der 1897 in Vilnius gegründet worden war. In der Schweiz gab es mehrere bundistische Zirkel, deren Zentralbüro sich in Bern befand. Einer ihrer Anführer, David Machlin, wurde 1906 als vermeintlicher Anarchist und Bombenleger in Bern verhaftet und ausgewiesen.

Das vierte Hauptkapitel Hilfe, Ohnmacht, Gedenken behandelt die Zeit vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten. Der Haupttext ist im Verhältnis zu den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen in jener Zeit eher kurz. Der Autor Patrick Kury behandelt den Rückgang der Anzahl der russischen Studenten und die restriktive antisemitische Fremdenpolitik der Schweiz, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich gegen Ostjuden richtete. Weiter kommen die Vorreiterrolle der Israelitischen Kultusgemeinde Bern gegen den Antisemitismus zur Sprache sowie insbesondere der Berner Prozess gegen die Protokolle der Weisen von Zion. In diesem Zusammenhang ist auch der kurze Text über Georges Brunschvig zu erwähnen. Ausführlicher behandelt der Autor das Berner Hilfscomité, dessen Leiter Walter Bloch gute Beziehungen zu Heinrich Rothmund hatte. Der Autor erwähnt aber leider mit keinem Wort die Tätigkeit des Berner Hilfswerks für Emigrantenkinder (BHEK) oder diejenige des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH), deren Bestände im Schweizerischen Bundesarchiv resp. im Schweizerischen Sozialarchiv gut zugänglich sind. Weiter behandelt der Autor ausführlich das Schicksal der Flüchtlinge Céline und Simon Zagiel, während er die vielen unbekannten Flüchtlinge an der bernisch-französischen Grenze kaum erwähnt.

Im fünften und letzten Teil Auf dem Weg in die Gegenwart behandeln mehrere Autoren die Nachkriegszeit, in der auch die Einheitsgemeinde gebildet wurde. Der Weg zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung der jüdischen Gemeinden Bern und Biel verlief harzig. Ein erster Gesetzesentwurf scheiterte 1990 an der Urne, da die stärkste Partei Berns, die SVP und ihre rechtsextremen Partner, die Nein-Parole herausgaben – wie übrigens in anderen Kantonen auch. 1997 wurde das Gesetz über die jüdischen Gemeinden erlassen, welches den Rahmen für die Kooperation der Behörden mit der jüdischen Gemeinde regelt. Die Besoldung der Rabbiner konnte indirekt durch die drei Landeskirchen sichergestellt werden, die auf die entsprechenden Stellenprozente beim eigenen Personal verzichteten. Auch wenn die finanzielle Unterstützung der jüdischen Gemeinde durch die Landeskirchen und den Kanton freiwillig erfolgte, ist sie doch ein markantes Zeichen der Toleranz.

Als wenig konsequent stellt sich das Personenregister heraus. Gewisse Autorinnen wie die kürzlich verstorbene Hanna Zweig werden aufgeführt, nicht aber Erika Luce; Pierre Bourdieu wurde ins Register aufgenommen, der im gleichen Satz erwähnte Stefan Mächler nicht. Paul Dreyfus-de Gunzberg fehlt, während die im gleichen Satz aufgeführte Getrud Kurz und Bundesrat Eduard von Steiger notiert werden. Warum fehlt überhaupt ein Quellen- und Literaturverzeichnis, in der alle zitierten Autoren und Werke aufgeführt sind? Ebenfalls unvollständig ist das Abkürzungsverzeichnis; so fehlen zum Beispiel das Bundesarchiv (BAR) und der Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen / Fürsorgen (VSJF).

Zitierweise:
Annette Brunschwig: Rezension zu: Bloch, René / Picard, Jacques (Hrsg.): Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200 – 2000. Schriftenreihe des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Zürich: Chronos 2014. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 47-49.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 47-49.

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